Adriana Lestido, Untitled (from the series "Mothers and Daughters"), 1996

© Adriana Lestido

17. MÄRZ 2023 – 24. NOVEMBER 2023

So much Love and Compassion

Können Bilder aufklären und die Welt verändern? Wie verhält sich Fotografie und Skulptur zu Gewalt, zu Erfahrungen von Unterdrückung, Trennung und Verlust? Mit ihrer neuen Ausstellung in der Villa zeigt die Alexander Tutsek-Stiftung Arbeiten, die sich als soziales Engagement verstehen, als öffentliches Gespräch über Dinge, die im Verborgenen stattgefunden haben. Sie erzählen vom Leiden und zugleich von der Kraft zum Widerstand, von Liebe und Mitgefühl.

Zwei Künstlerinnen werden vorgestellt, die beide unter dem Terror der Militärdiktatur in Argentinien gelitten haben, die Zeit von 1976 bis 1983, in der mehr als 30.000 Menschen verschwanden. Die eine, Silvia Levenson, geboren 1957 in Buenos Aires, die Familienmitglieder verlor, floh, damals 23 Jahre alt, mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern. Die andere, Adriana Lestido, geboren 1955 ebenfalls in Buenos Aires, deren Mann entführt wurde und für immer verschwand, blieb im Land. Levenson entdeckte im Exil in Italien das Material Glas, um ihr künstlerisches und politisches Anliegen auszudrücken, Lestido griff zur Kamera.

Kinderkleidchen in pastellfarbigem Glas von Silvia Levenson ziehen sich wie ein Fries durch die Villa. Was zunächst harmlos wirken mag, stellt sich heraus als Auseinandersetzung mit der Grausamkeit des Regimes. Glas ist für Levenson das Medium zu bewahren und zu beschützen, wie sie sagt. Hinter seiner dekorativen Qualität verbirgt sich der Schrecken – und das Glück der wiedergefundenen Identität. Die Arbeit Recovered Identity ist ein „work in progress“ (ab 2014 fortlaufend). Sie hält ein Trauma der argentinischen Gesellschaft in Erinnerung: Oppositionelle Frauen, die im Gefängnis ihre Kinder zur Welt gebracht hatten, wurden ermordet und die Neugeborenen im Geheimen zur Adoption angeboten. Mindestens fünfhundert Kinder wurden auf diese Weise gestohlen. Wann immer eines dieser „Kinder“ wiedergefunden ist – dafür kämpfen bis heute die Großmütter, die „Abuelas de Plaza de Mayo“, macht Levenson ein neues Kleidungsstück. Über 130 sind es bis heute. So wächst die Sammlung der Alexander Tutsek-Stiftung, zu der auch andere Werke der Künstlerin gehören, kontinuierlich um neue „wiedergefundene Identitäten“.

„Das Ziel meiner Fotografien ist es, sich der Wahrheit anzunähern“, sagt Adriana Lestido. Ihre Fotografie aus dem Jahr 1982 Madre e hija de Plaza de Mayo (Mutter und Tochter von der Plaza de Mayo) wird zur Ikone des Widerstands und Teil des kollektiven Gedächtnisses. „Der abwesende Mann, der Schmerz, die Kraft, das starke Band zwischen Mutter und Tochter. Die Trennung. Es ist alles da, in diesem ersten Bild“ (A.L., El Pais). Die Grundstimmung für die folgenden Arbeiten ist damit festgelegt: In berührenden schwarz-weiß Fotografien, kontrastreich in Licht und Schatten, zeichnet Lestido Frauen in ihrer Einsamkeit und Ohnmacht. Und zugleich zeigt sie ihre Hingabe, die Zärtlichkeit ihres Blicks und ihre innige körperliche Zuwendung. In der Tradition des „documentary photographic essay“ erzählt sie von jungen Müttern (Madres adolescentes, 1988–1989) und von Müttern, meist aus armen Verhältnissen, die mit ihren Kindern im Gefängnis leben (Mujeres presas, 1991–1993). Ihre Fotografien sind „sehr intim…, sie sind so erzählerisch, dass Worte überflüssig sind“, sagt John Berger über Lestido, dessen Worte der Würdigung die Ausstellung ihren Titel verdankt: „So much love and compassion”.

Sergey Melnitchenko, geboren 1991 in Mykolaiv in der Südukraine, Begründer der School of Conceptual and Art Photography MYPH und Mitglied der Ukrainian Photo Alternative, er repräsentiert mit seinem fotografischen Œuvre eine andere Generation, ein anderes Land und andere politische Verhältnisse. Und doch passt er gut in diesen Kontext, weil auch er, eine wirkliche Neuentdeckung, sich auf die Beziehung von Mutter und Kind einlässt. Die Arbeiten aus seiner Reihe Who’s Here (2017–2019) zeigen den Zauber der Bindung von Mutter und Kind in den alltäglichen Ritualen und nehmen so den Faden der Arbeiten von Adriana Lestido auf: Motive in ihrer verletzlichsten Form zu fotografieren und Momente körperlicher und emotionaler Beziehungen festzuhalten. In seinen Bildern aus dem Blickwinkel des Mannes und Vaters scheint eine familiäre Harmonie auf, die der Lebenswelt der Arbeiten von Levenson und Lestido verwehrt war. Aber auch Melnitchenkos Welt ist fragil. Als wir mit ihm sprachen, da war schon der Krieg hereingebrochen und er hatte Frau und Kind außer Landes gebracht.

Kuratiert von Dr. Eva-Maria Fahrner-Tutsek und Dr. Petra Giloy-Hirtz

Ausstellungsort
Villa
Karl-Theodor-Str. 27
80803 München

Anfahrt

Öffnungszeiten
Dienstag bis Freitag 14–18 Uhr, Donnerstag 14–20 Uhr, jeden ersten Samstag im Monat 11–15 Uhr, feiertags geschlossen